Nach einem ersten Krampfanfall ist es bisher nur selten möglich, eine Epilepsie eindeutig zu erkennen oder auszuschliessen. Wissenschaftler in der ganzen Schweiz wollen das ändern – unter anderem dank der Unterstützung durch die Epilepsie-Liga.

Roland Wiest (links) mit Mistreitern am MRI. Bild: Tanja Läser für Insel Gruppe AG.

März 2021 – Plötzlich fällt die zwanzigjährige Lisa um wie ein Brett. Schockiert beobachten ihre Kolleginnen, wie sie einen Schrei ausstösst, steif wird und dann heftig zuckt. Zum Glück weiss ihre beste Freundin, was zu tun ist und kann sie vor grösseren Verletzungen schützen. Im Spital wacht Lisa wieder auf.

Ein erster Krampfanfall ist immer ein Schock. Hat Lisa Epilepsie? War es überhaupt ein epileptischer Anfall, oder sah es nur so aus? Vielleicht gibt es eine andere Ursache? Das fragen sich die Ärzte, ihre Eltern und Lisa selbst, nachdem sie sich von den Folgen des Anfalls erholt hat.

Lisa bekommt EEG-Elektroden an den Schädel geklebt, die den Hirnstrom messen. Danach wird sie in eine MRI-Röhre geschoben, den Kernspintomographen. Ein Hirntumor als Ursache lässt sich so leicht ausschliessen. Wie bei vielen anderen zeigt Lisas EEG-Kurve keine epilepsietypischen Ausschläge. «Bisher war in einem solchen Fall höchst ungewiss, ob jemand weitere Anfälle haben würde», sagt Prof. Dr. Roland Wiest vom Berner Inselspital, Forschungspreisträger der Epilepsie-Liga 2018. «Oft verändert sich die Hirnstromkurve nur während eines Anfalls, nicht aber davor oder danach», sagt Prof. Dr. Margitta Seeck aus Genf, «was neue Methoden der Diagnostik erfordert».

Neue Methoden sorgen für mehr Gewissheit

Doch das könnte sich in Zukunft ändern. Lisas MRI besteht nicht nur aus einer Standardmessung, sondern soll zusätzlich magnetische Feldeffekte erfassen, die durch die epileptische Aktivität ausgelöst werden. Zudem vergleicht ein ausgeklügeltes Computersystem ihre Messdaten mit denen Hunderter anderer Menschen, die einen oder auch mehrere mutmasslich epileptische Anfälle hatten. Hinzu kommen die Beobachtungen ihrer aufmerksamen Freundin und die Erfahrung der Neurolog*innen im Spital.

Wenn alles so läuft wie erhofft, ermöglichen diese Informationen bald eine Einschätzung, ob Lisa mit weiteren Anfällen rechnen muss. Falls das sehr unwahrscheinlich ist, könnten Lisa und ihre Familie aufatmen: Die Gefahr dann ist kaum grösser als bei Menschen, die noch nie ein solches Erlebnis hatten. In diesem Fall dürfte Lisa zu ihrer grossen Erleichterung bald wieder Auto fahren und schwimmen.

Spitäler aus der ganzen Schweiz machen mit

Bisher ist dieser letzte Teil noch Zukunftsmusik, aber wenn es gut läuft, könnten sich diese und viele andere Geschichten bald so oder ähnlich abspielen: Bereits jetzt erfassen Ärztinnen und Ärzte in der ganzen Schweiz im Rahmen eines grossen Forschungsprojekts alle nötigen Daten, um Voraussagen nach einem ersten Anfall zu ermöglichen. Zwei Jahre später vergleichen die Wissenschaftler Prognose und Wirklichkeit und können ihr ausgeklügeltes System damit optimieren. Zu den Projektleitenden gehört neben Roland Wiest auch Margitta Seeck, Vorstandsmitglied der Epilepsie-Liga.

«Es begann mit dem Projekt, das die Epilepsie-Liga 2018 dankenswerterweise gefördert hat», sagt Wiest. Damals ging es vor allem um die neue MRI-Methode, doch bald konnten er und sein Team die Forschung ausdehnen und weitere unabhängige Fördermittel akquirieren. Inzwischen arbeiten sie mit grossen Epilepsie-Zentren in allen Schweizer Landesteilen zusammen. Damit Lisa und viele andere hoffentlich bald mehr Gewissheit haben.

Foto: Roland Wiest (links) mit Mistreitern am MRI. Bild: Tanja Läser für Insel Gruppe AG